Vor dem Hintergrund der 30-jährigen Wiedervereinigung wird wieder viel über den Osten gesprochen und breit verhandelt. In den kollektiven Gedächtnissen und den allermeisten Erzählungen über die ostdeutsche Gesellschaft vor und nach der Wiedervereinigung finden die Perspektiven von Migrant*innen, ehemaligen Vertragsarbeiter*innen, der postmigrantischen und der BiPoC-Communities dennoch nach wie vor auffallend wenig Beachtung.
Migration war im Osten wie im Westen ein fester Bestandteil der gesellschaftlichen Entwicklung. Diese Migrationsgesellschaft ist vor und nach der Wiedervereinigung durch vielschichtige Erfahrungen gekennzeichnet. Aber wenn es um die Zuwanderungsgeschichte der Bundesrepublik geht, wird meistens nur die westdeutsche Perspektive erzählt. Die Migrationsgeschichte in Ostdeutschland unterscheidet sich jedoch in zentralen Punkten von dieser Erfahrung und sollte nicht einfach ‚mitgedacht‘ werden. Daher ist es diesem Artikel ein Anliegen, den Fokus verstärkt auf die Erfahrungen von ostdeutschen Migrant*innen zu lenken.
Arbeiten im Bruderland. Erfahrungen von Vetragsarbeiter*innen in der DDR
Der Großteil der Zugewanderten erreichte die DDR wie BRD durch entsprechende Anwerbeabkommen ab den 1960er Jahren bis zum Fall der Mauer. Durch ihre demographische Entwicklung, politische Ausrichtung und ökonomische Rückständigkeit, gerade gegenüber Westdeutschland, fehlte es der DDR an Arbeitskräften, die folglich aus dem Ausland angeworben wurden.
Zwar hatte es schon in der frühen Nachkriegszeit erste bilaterale Abkommen über Arbeitskräftekooperationen gegeben, doch sind es vor allem die 1980er Jahre, in denen die Arbeitskräftemigration der DDR maßgeblich zunimmt: Hielten sich gegen Ende der 1970er Jahre noch rund 29.000 Vertragsarbeitende in der DDR auf, hatte sich die Anzahl bis 1989 mehr als verdreifacht. Die Vertragsarbeitenden stammten zumeist aus Ländern wie Polen, Kuba, Mosambik und Vietnam. Letztere machen mit ca. 66.000 Arbeitskräften den größten Teil der sogenannten Vertragsarbeiter*innen in der DDR aus.
Anders als die Bundesrepublik öffnete sich die DDR dabei nur äußerst begrenzt zugunsten einer vielfältigen Gesellschaft: Für die angeworbenen Migrant*innen war ein dauerhafter Aufenthalt nicht vorgesehen. Nach dem Auslaufen ihrer Verträge erwartete der Staat ihre Rückkehr in die Herkunftsländer. Statt eine gleichberechtigte Teilhabe zu fokussieren, bemühte man sich, der Öffentlichkeit so wenig Einblicke wie möglich in die Lebensrealität der Vertragsarbeiter*innen zu gewähren.
Ostdeutscher Rassismus vor und nach der Wiedervereinigung
Diese staatlich organisierte Trennung und tendenzielle Isolation vom Rest der ostdeutschen Bevölkerung führte dazu, dass Gerüchte und Vorurteile über die Migrant*innen entstanden. Rassistisch motivierte Übergriffe fanden bereits ab Ende der 1970er Jahre statt, wurden jedoch vom Staat verschwiegen: Ausländerfeindlichkeit gegenüber Menschen aus den sozialistischen Bruderstaaten passte nicht zum Bild der DDR und wurde daher gerne unter den Teppich gekehrt.
So entstand bei vielen weißen Bürger*innen der Eindruck, als würden diese Rassismen gesellschaftlich akzeptiert werden. Spätestens an dieser Stelle wird sichtbar, wie wenig sich die DDR im Kern oder in ihrer Politik als internationale Gesellschaft verstand. Die Einstellungen gegenüber Zugewanderten, ob Vertragsarbeiter*innen, Asylsuchenden oder jüdischen Kontingentflüchtlingen, änderten sich nicht plötzlich mit der Wiedervereinigung. Im Gegenteil: Es häuften sich rechtes Gedankengut und daraus resultierende rassistische und rechtsextreme Gewaltbereitschaft in der Bevölkerung.
Die Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen im August 1992 markieren bis heute nur einen von vielen traurigen Höhepunkten rassistischer Gewalt in Ostdeutschland. Wie stark diese historischen Dimensionen bis heute wirken, zeigt sich auch daran, dass Ostdeutschland im Bundesvergleich bis heute gerade einmal einen Anteil von acht Prozent Menschen mit Migrationshintergrund aufweist – der Anteil in Westdeutschland ist vier Mal so hoch.
Eine postmigrantische, ostdeutsche Gesellschaft
Zusammen mit den Familien der früheren Vertragsarbeiter*innen und zugezogenen Asylbewerber*innen bildet sich in den neuen Bundesländern gegenwärtig eine zweite Generation von Menschen mit einem neuen Selbstverständnis und einer neuen postmigrantischen Dynamik. Die Theaterintendantin Shermin Langhoff hat den Begriff postmigrantisch maßgeblich geprägt und beschreibt den Unterschied zur migrantischen Gesellschaft vor allem in deren (Selbst-)Erzählungen.
Mit der Bezeichnung postmigrantisch werden in erster Linie die nachfolgenden Generationen der zugewanderten Gruppen beschrieben, die »andere Perspektiven und andere Erzählungen in die Gesellschaft mit einbringe[n] als Zuwanderer mit eigener Migrationserfahrung«. Eine postmigrantische Gesellschaft definiert sich durch ihre Bestrebungen, gesellschaftliche Trennlinien der Migration wie die normative Hierarchisierung zwischen Etablierten und Außenseiter*innen aufzuheben. Folglich sollen nicht Migration, sondern Anerkennungspolitiken zum zentralen gesellschaftlichen Thema werden.
Das bedeutet auch, dass es in postmigrantischen Gesellschaften nicht um Integration (1) in eine vermeintliche Mehrheitsgesellschaft geht, sondern um Fragen der sozialen Anerkennung, der gleichberechtigten Teilhabe und Partizipation. Diese Anerkennungspolitiken werden innerhalb einer postmigrantischen Gesellschaft stets neu formiert, weswegen ich hier von einer sogenannten postmigrantischen Dynamik spreche, in der die Forderungen nach Gleichheit und Gerechtigkeit im permanenten Prozess erkämpft und ausgehandelt werden.
Vielfalt statt Einheit
Wie empfindlich dieser Teilhabeanspruch ein ostdeutsches Selbstverständnis berührt, das Migration als Verunsicherung, ja: Bedrohung! empfindet, zeigt sich an den Widerständen innerhalb der Bevölkerung: Der wachsende Rechtsruck, die rassistisch motivierten Gewalttaten, die Entstehung von Pegida oder das Erstarken der AfD können als kläglicher Versuch gewertet werden, diesen Forderungen nach einer pluralen, vielfältigen und demokratischen Gesellschaft entgegen zu wirken.
Aber wie kann diesem Widerstand begegnet werden? Diese Frage kann dieser Artikel nicht beantworten. Eines ist sicher: Die postmigrantische Gesellschaft muss sichtbarer werden. Dazu gehört es sowohl künstlerisch wie kulturpolitisch keine monothematische Geschichte von Der Einheit zu erzählen oder aufzuführen. Eine vereinte Gesellschaft braucht vielfältige Erfahrungen und historische Gedächtnisse, die differenziert, kompliziert und sogar widersprüchlich sein können.
Ein zentraler Schritt in diese Richtung ist, andere ostdeutsche Migrationserfahrungen zu sammeln und sie aktiv zu erinnern. 2020, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, braucht es keine historische Einheit, sondern die Wertschätzung für und Sichtbarmachung von kultureller und kulturhistorischer Vielfalt.
(1) Vgl. zum kritischen Integrationsdiskurs etwa: Max Czollek (2019): Desintegriert Euch! München: Hanser
Dieser Text wurde erstmal in den Kulturpolitischen Mitteilungen veröffentlicht.
Literatur:
Foroutan, Naika (2019): Die postmigrantische Gesellschaft. Ein Versprechen der pluralen Demokratie, Bielefeld: transcript Verlag
Langhoff, Shermin (2009): Wir inszenieren kein Getto-Theater, https://taz.de/Wir-inszenieren-kein-Getto-Theater/!674193/ (letzter Zugriff 11.08.2020)
Müggenburg, Andreas (1996): Die ausländischen Vertragsarbeitnehmer in der ehemaligen DDR: Darstellung und Dokumentation, Berlin: Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Ausländer
Poutrus, Patrice G. (2019): Umkämpftes Asyl: Vom Nachkriegsdeutschland bis in die Gegenwart, Berlin: Ch. Links Verlag
Priemel, Kim Christian (2011): Transit – Transfer: Politik und Praxis der Einwanderung in der DDR 1945 – 1990, Berlin: be.bra wissenschaft verlag
Schulz, Mirjam (2011): »Migrationspolitik in der DDR: Bilaterale Anwerbungsverträge von Vertragsarbeitnehmern«, in: Priemel, Kim Christian (2011): Transit – Transfer: Politik und Praxis der Einwanderung in die DDR 1945-1990, Berlin: be.bra wissenschaft verlag, S. 143-168
Weiss, Karin (2013): »Migration und Integration in den neuen Bundesländern«, in: Brinkmann, Heinz Ulrich (2013): Dabeisein und Dazugehören: Integration in Deutschland, Wiesbaden: Springer VS, S. 383-398
Wowtscherk, Christoph (2014): Was wird, wenn die Zeitbombe hochgeht? Eine sozialgeschichtliche Analyse der fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Hoyerswerda im September 1991. Göttingen: V&R unipress